Kicker-Interview: „Die Wette gilt, Michael!“
Zwei deutsche Trainer. In der 1. Liga. In UNGARN. In Budapest. Michael Boris lässt Aufsteiger MTK träumen, Michael Oenning führte Ujpest 2021 aus der Abstiegszone. Ob sie sich im Pokalfinale wiedersehen?
Am Ende des einstündigen, kurzweiligen Video-Gesprächs am vergangenen Montag schießt Michael Oenning (55) noch ganz trocken das Tor in der Nachspielzeit: „Hier ist Nationalfeiertag. Wir hatten eh nichts Besseres zu tun ...“ Zuvor plauderte er gemeinsam mit seinem deutschen Trainerkollegen Michael Boris (45) über Fußball, Budapest, Schubladen und Kuchen.
Herr Boris, Sie haben 2017 als Trainer von Ungarns U21 ein Testspiel gegen den damals amtierenden Europameister Deutschland gewonnen. Muss die DFB-Auswahl beim EM-Auftakt am kommenden Mittwoch wieder zittern?
Michael Boris: Wenn ich mir den deutschen Kader anschaue, braucht Ungarn einen absolut guten Tag. Wir hatten den damals beim 2:1 in Paderborn.
Sechs Spieler Ihres Teams sind nun in Ungarns Kader. Eine Auszeichnung für Ihren Weg mit jungen Leuten?
Boris: Bei mir war der Auftrag seit meiner Ankunft im Juni 2019: Arbeite mit Akademiespielern! Das versuche ich, aber im Vordergrund steht die Leistung, klar. Michael kann dazu auch etwas sagen.
Michael Oenning: Ich bin ja erst seit knapp drei Monaten hier, aber einer meiner Spieler, Aron Csongvai, ist nachnominiert worden. Die jetzige A-Nationalelf Ungarns basiert teils auf meinem Team, das ich vor drei Jahren bei Vasas trainierte.
Im Pokal-Viertelfinale haben Sie aber mit elf ausländischen Spielern begonnen?
Oenning: Leider ist das in Ungarn ein populistisches Thema. Im Pokalspiel davor hatten wir sieben Ungarn in der Startelf. Nun waren drei verletzt, und bei denen mit doppelter Staatsbürgerschaft zählte plötzlich nur noch die nicht ungarische.
Stichwort Pokal: Treffen Sie beide sich im Endspiel am 5. Mai wieder?
Boris: Ich hoffe es. Ich bringe dann auf jeden Fall den Kuchen mit, Michael.
Oenning: Ich will keinen Fehler zweimal machen, das heißt: Nach der Finalniederlage 2017 mit Vasas gegen Ferencvaros muss ich jetzt gewinnen. Aber erst müssen wir beide das Halbfinale überstehen.
Ungarns Premierminister Viktor Orban hat den Fußball quasi zur Staatsangelegenheit erhoben, will ihn zurück in die Weltspitze führen. Utopie?
Oenning: Er hat auf jeden Fall eine prima Infrastruktur in den Klubs geschaffen. Sportlich sind einige Dinge aber wieder aufgeweicht, wie ein Kontingent an U-21-Spielern einsetzen zu müssen, was mit Fördergeldern korrespondierte. Ressourcen, Talente, Leidenschaft – da ist viel möglich. Aber nur über Jahre, nicht mit Handauflegen.
Boris: Stimmt. Ich habe als U-21-Nationaltrainer sehr von dieser Regelung profi tiert. Ebenso wäre eine Aufstockung der Liga sehr hilfreich, wir spielen hier mit zwölf Klubs dreimal gegeneinander.
Orban wird im Ausland zu Recht kritisch gesehen. Wie kam es in Ungarn an, strenge Regeln für das eigene Volk zu schaffen, aber aus Prestigegründen Budapest für Champions-League-Spiele zu öffnen?
Boris: Ich kann sagen, dass die Testung in Budapest am Flughafen besser funktioniert als zum Beispiel in Frankfurt. Die Spieler sind ja alle durchgetestet. Es kam gut an bei den Leuten.
Oenning: Fußball ist und bleibt in einer Blase, ausbrechen geht nicht. Die Ungarn lieben den Fußball. Sie sind stolz auf ihr neues Stadion und darauf, dass hier in Budapest gespielt wurde.
MTK steht bereits zum zweiten Mal unter Ihnen im Pokal-Halbfinale, erst als Zweitligist, nun auch als Aufsteiger. Und in der Liga schnuppert man als Vierter an der Europa Conference League. Wie haben Sie das geschafft, Herr Boris?
Boris: Als ich kam, fehlte mir das Tempo und das raumübergreifende Spiel. Wir haben eine offensive Spielidee: Hunting, das Balljagen, ist unser Motto. Wir setzen auf schnelle Spieler. Es klappt, auch dank Fortschritten im Athletikbereich. Aber die Liga ist eng. Man braucht 42 Punkte, um save zu sein.
Herr Oenning, Sie gewannen von den jüngsten zehn Spielen acht, haben Ujpest damit erst mal aus der Abstiegszone geführt. Läuft …
Oenning: Ujpest ist nach Ferencvaros der traditionsreichste Verein hier. Den nicht in der 1. Liga zu sehen, wäre sehr merkwürdig. Daher war es eine heikle Aufgabe. Die ersten drei Spiele haben wir verloren, aber danach haben wir zueinandergefunden. Mit Ordnung, Disziplin und Fitness, ebenso mit einer off ensiven Spielidee. Der ganz große Druck ist weg, aber zu Beginn sind wir sehr angefeindet werden.
Was war Ihre Motivation, nach der Entlassung in Saloniki relativ schnell in Ungarn anzuheuern – will man buchstäblich im Geschäft, im Gespräch bleiben?
Oenning: Meine Mission in Griechenland endete abrupt nach dem Aus im Europacup, war aber eigentlich noch nicht abgeschlossen. Das war ein Schlag. Deswegen wollte ich so schnell wie möglich wieder arbeiten.
Herr Boris, Sie haben als Trainer von Windeck im Pokal 2009 gegen Schalke 04 gespielt und Ihr Gegenüber Felix Magath vor laufender TV-Kamera um ein Praktikum gebeten. Wie mutig war das?
Oenning: Sehr mutig (lacht).
Boris: Der Tipp für die Aktion kam vom erfahrenen Reporter Ulli Potofski, den ich bei NRW-TV kennengelernt hatte. Felix war fair, sagte nach der PK nur: „Dienstag, 10 Uhr Training, 9 Uhr da sein.“
Ein klassischer Magath.
Boris: Ja, aber in der Folge wurde ich tatsächlich U-23-Trainer auf Schalke.
Der typisch deutsche Blickwinkel ist es zu glauben, das Ziel jedes Trainers müsse die Bundesliga sein. Aber es kann ja auch anders sein.
Oenning: Ich bin damals bewusst ins Ausland gegangen, um eine andere Kultur, auch im Fußball, zu erleben. Viele meiner Weggefährten, siehe auch große Namen wie Jürgen Klopp oder Thomas Tuchel, sind jetzt schon länger weg aus Deutschland. Der Respekt vor Trainern ist größer ...
Bei den Spielern oder in den Medien?
Oenning: Das ist eine mediale Geschichte, aber auch eine Grundeinstellung. In Deutschland will man immer alles zu schnell bewerten. Dadurch entsteht eine zu hohe Fluktuation. Hinzu kommt, dass es in Griechenland oder auch hier in Budapest einfach wunderschön zum Leben ist. Deutschland glaubt tatsächlich, dass die Bundesliga das Maß aller Dinge ist. Da bin ich mir nicht so sicher, auch wenn das Ziel bleibt, in Deutschland zu arbeiten.
Boris: Bei mir ist es etwas anders. Bernd Storck hat mich 2016 als U-19-Trainer hierhin geholt, und die Auslandserfahrung ist so, wie Micha sie beschreibt. Mein Ziel, mein Traum ist es aber schon, im deutschen Profifußball anzukommen.
Dort wartet Leipzigs Dominik Szoboszlai wegen einer Verletzung auf sein Debüt. Sie trainierten ihn in Ungarns U 21, bevor er in Salzburg Furore machte.
Boris: Er hätte da noch U 19 spielen können. Er kann Partien entscheiden, er weiß, wie das Jagen geht. Er schnappt auch bei Freistößen den Älteren den Ball weg. Die Bundesliga kann sich mächtig auf ihn freuen.
Oenning: Als Julian Nagelsmann zuletzt mit RB in Budapest war, hat er bei uns trainiert. Er ist traurig über Domis Verletzung. Wenn er gesund bleibt, hat er eine große Karriere vor sich.
Hat Ungarn bei der EM im Sommer eine Chance gegen Deutschland, Portugal, Frankreich?
Oenning: Sie haben keine, darin liegt sie.
Boris: Das Team wird zumindest vom Verband unterstützt. Unsere Saison endet am 9. Mai, sie treffen sich also eher als andere.
Bleiben wir bei großen Talenten – Sie haben Ilkay Gündogan einst nach Nürnberg geholt und gefördert. Sie haben damals gesagt, dass er Nationalspieler wird.
Oenning: Und heute sage ich, dass er mal ein guter Trainer werden wird. Dass er jetzt ein Weltklassespieler ist, freut mich sehr. Schalke hat ihn in der E-Jugend weggeschickt, in Bochum hat er sich prima entwickelt, in Nürnberg bestand der Vater darauf, dass Ilkay nebenher sein Abitur macht.
Die Menschen neigen dazu, alles und jeden gerne in Schubladen zu stecken. Wie gehen Sie damit um?
Oenning: Bei mir war es zum Beispiel in Nürnberg so, dass ich irgendwo zwei Stunden über Fußball gesprochen hatte. Ein kleines Mädchen bat mich, Klavier zu spielen. Ich tat ihr den Gefallen und war fortan nur der Klavierspieler. Jede Schublade, die man aufmacht, sollte man am besten ganz schnell wieder zumachen.
Boris: Manche Leute, die dieses Interview lesen, haben sicher erst mal gedacht: Michael Oenning, klar. Und dann: Michael wer? Aber ich bin hier ebenso ein Erstligatrainer. Auch der, der kein Profiwar, hat eine Idee vom Fußball, und die will ich zeigen. Mir kam zugute, dass Storck damals einen U-19-Trainer für Ungarn suchte. Wir kamen beide aus dem Ruhrpott, das half, um direkt auf einer Wellenlänge zu funken.
Sie sind aus Bottrop-Kirchhellen, bekannt für seinen Freizeitpark. Sind Sie auf Ihre Karriere bezogen auch auf einer Achterbahn unterwegs gewesen?
Boris: Micha und ich haben ja zwei völlig unterschiedliche Karrierewege. Ich war in der Regionalliga auf Schalke erfolgreich, Lotte und Uerdingen waren nicht meine besten Entscheidungen. Doch in Ungarn hat einfach alles gepasst.
Oenning: Du wirst aber auch dadurch besser, wenn du zwischendurch scheiterst. Weil du weißt, was du beim nächsten Mal besser machen musst.
Ist es ein Trost für Sie, wenn es zum Beispiel beim HSV keiner nachhaltig besser gemacht hat? Wenn man irgendwann sieht, dass vielleicht nicht der Trainer das Problem ist?
Oenning: Es wäre menschlich, wenn man so denken würde. Aber das tue ich trotzdem nicht, weil ich niemandem Misserfolg wünsche. Nehmen wir Aris: Ich wurde entlassen, aber freue mich über deren 2. Platz in Griechenland aktuell, weil ich die Mannschaft zusammengestellt habe.
Boris: In Uerdingen habe ich auch Dinge verändert, auf die mein Nachfolger aufbauen konnte, und dann ging es wieder hoch. Das sehe ich positiv. Alles andere bringt auch nichts.
Nun arbeiten Sie beide schon längere Zeit im Ausland und können eines der wichtigsten Mittel eines Trainers, Ihre Muttersprache, nicht so nutzen wie in der Heimat. Wie schwer wiegt das?
Oenning: Es macht alles komplett anders. Man muss mit mehr Kanälen arbeiten. Darüber muss man Vertrauen aufbauen, Wege aufzeigen, dass es funktioniert. Es ist intensiver, das reizt mich aber am Ausland.
Boris: Das mit den Kanälen stimmt, wobei sich zum Beispiel Emotionen nicht über einen Dolmetscher transportieren lassen. Und es geht darum, viel mehr auf Mentalitäten einzugehen. Ungarn sind anders als Deutsche – und die sind anders als Südeuropäer. Die aber können ihre Sprache auch nicht anwenden. Trotzdem daraus das Beste zu machen, ist die Kunst.
Eines müssen wir noch klären: Welchen Kuchen gäbe es denn zum Pokalfinale?
Oenning: Pflaumenkuchen.
Boris: Ich habe Kirsche und Apfel während des Lockdowns im Supermarkt entdeckt.
Aber kaufen ist doch langweilig. Der Verlierer muss backen, okay?
Boris: Also es geht eigentlich um den Kuchen vor dem Spiel im Stadion. Aber die Wette gilt, Michael.
Oenning: Auf jeden Fall. Das kriegen wir beide hin.
INTERVIEW: CHRISTIAN BIECHELE, THOMAS BÖKER
Kicker, Nr. 23
18. März 2021